P. Kupper: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft

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Titel
Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst


Autor(en)
Kupper, Patrick
Reihe
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik, Band: 3
Erschienen
Zürich 2003: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Leyla Gül

Die Geschichte der zivilen Nutzung der Atomenergie in der Schweiz ist noch wenig erforscht. Nun liegt mit der Dissertation von Patrick Kupper eine Fallstudie zum gescheiterten Kernkraftwerkprojekt im aargauischen Kaiseraugst vor. 1965 von einem internationalen Konsortium unter der Federführung der Firma Motor- Columbus initiiert, machte das Bauvorhaben eine wechselhafte Geschichte von einem allgemein als notwendig angesehenen und zeitgerechten Stromlieferanten bis hin zu einem als untragbar erachteten Koloss auf dem schweizerischen Energiemarkt durch. Das 1989 aufgegebene Projekt durchlief eine zweifache Karriere: zum einen als technisches Infrastrukturprojekt, zum anderen als Projektionsfläche für unterschiedliche Zukunftsvorstellungen und gesellschaftliche Grundwerte wie Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus, technischer Fortschritt oder Umwelt - schutz. «Kaiseraugst» bildete sich zum Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Diskurse heraus und wurde zum Testgelände der Auseinandersetzung zwischen Technik und Umwelt, politischer Willensbildung und Rechtsstaatlichkeit. An dieser Stelle setzt die Studie ein und sie steckt sich hohe Ziele. Sie fragt nicht nur nach den Ursachen des Scheiterns des Vorhabens, sondern stellt die Interpretationszusammenhänge der Diskurse um das mehrschichtige Phänomen «Kaiseraugst» ins Zentrum. Dabei bezieht der Autor verschiedene Handlungsebenen und -akteure ein und verknüpft technik-, umwelt- und unternehmensgeschichtliche mit gesell - schafts-, sozial- und kulturhistorischen Ansätzen.

Die Studie ist grundsätzlich chronologisch aufgebaut. Untersuchungsgegen - stand der beiden ersten Kapitel bilden die Initiatoren des Atomkraftwerkprojekts und ihre Bemühungen, das Werk zu realisieren. Vor dem Hintergrund der Vorge - schichte des Projekts zeigt der Autor auf, wie sich die an «Kaiseraugst» beteiligten Unternehmen – geblendet von der Atomeuphorie der Nachkriegszeit und vom Wunsch geleitet, die Phase der unbeliebten Wasser- und konventionell-thermi - schen Kraftwerke zu überspringen – zu fehlgeleiteten Schlüssen bezüglich der Risiken der neuen Technologie verleiten liessen. Diese Fehleinschätzung führte dazu, dass in der Schweiz zu viele Projekte in einem scharfen Konkurrenzkampf lanciert wurden. Heterogene Allianzen und konsortiumsinterne Differenzen waren die Folge, aber auch die Tatsache, dass durch die gegenseitige Abschottung der Planungsarbeiten projektübergreifende Lernchancen bezüglich des neuen und hochkomplexen Technologiebereichs vertan wurden.

Im Zentrum des dritten Teils steht die Opposition gegen das Kernkraftwerkprojekt Kaiseraugst. Im Anschluss an die Gewässerschutzdebatten der 1960er Jahre gelang es dem vorerst lokalen Widerstand Ende der 60er Jahre erstmals, gesellschaftliche Resonanz zu finden. Mit dem Aufbegehren gegen die zentralistische institutionelle Regelung des Atomenergiebereichs erhielt er eine wichtige Stärkung durch die beiden Basler Kantone und weitete sich im Verlauf der frühen 70er Jahre zu einer breit abgestützten Bewegung aus, der es gelang, die bis dahin unbestrittene zivile Nutzung der Atomenergie nachhaltig in Frage zu stellen. Die Ursache für das Entstehen dieser machtvollen Bewegung bezeichnet der Autor als «1970er Syndrom»: einer grundlegenden Neudefinierung der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, in deren Verlauf der Widerstand gegen Atomkraftwerke zu einem nationalen Politikum wurde.

Das nächste Kapitel widmet sich einem weiteren Akteur, dem Bundesstaat. Auch er trat nicht als homogener Protagonist auf, sondern nahm eine Doppelfunktion ein: als Förderer der Atomenergie und als unabhängige Kontroll- und Bewilligungsinstanz. Durch die staatliche Förderung wurde die Atomenergie zu einer Schlüsseltechnologie der Zukunft emporstilisiert und mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestattet. Der Sonderstatus, der ihr damit zugewiesen wurde, drückte sich im Atomgesetz von 1959 aus, welches eine für die Schweiz ungewohnt zentra listische Regelung vorsah. Im Zeichen des Glaubens an Fortschritt und Technik mochte sich diese bewähren. Als jedoch die Kontroversen um die Atomenergie begannen, hielt sie dem Druck der Öffentlichkeit nicht stand. Zum einen brach der bisher weitgehend abgeschlossene Planungskontext, in welchem die AKWProjektanten arbeiteten, auf und brachte das institutionelle Arrangement zum Einsturz. Zum anderen desavouierte die pronukleare Haltung der Bundesbehörden deren Rolle als unabhängige Kontrollinstanz. Der sich daraus ergebende Legitimationsdruck führte zusammen mit steigenden internationalen Sicherheitsanforderungen zu einer Überforderung der staatlichen Institutionen. In der Folge verzögerten sich Bewilligungsverfahren und Bauprogramm, die Finanzierung geriet aus dem Ruder, während die politische Akzeptanz sank und die Notwendigkeit neuer Atomkraftwerke für die Bedarfsdeckung immer mehr in Frage gestellt wurde.

Die konkreten Folgen, die diese Entwicklung für das Bauvorhaben in Kaiser - augst hatte, stellt der Autor in den beiden letzten Kapiteln dar. Während die Projektanten trotz der Schwierigkeiten an der Realisierung festhielten – Ende 1973 gründeten sie die Bau- und Betriebsgesellschaft Kernkraftwerk Kaiseraugst AG (KWK) und tätigten entscheidende Investitionen – stellte sich dieser Entscheid bereits eineinhalb Jahre später, nach der legendären Besetzung des Baugeländes in Kaiseraugst, als Fehlspekulation heraus. Der atomenergiepolitische Kontext war derart instabil geworden, dass für langfristiges Handeln keine Planungssicherheit mehr bestand. Anschaulich zeigt der Autor diese Verunsicherung anhand der Bewilligungsbehörden auf, die das Projekt bereits Ende der 1970er Jahre am liebsten entsorgt hätten. Etwas zeitversetzt drang dann selbst im Verwaltungsrat der KWK die Meinung durch, dass mit einer entsprechenden Entschädigung auf ein Kernkraftwerk in Kaiseraugst verzichtet werden solle. Verhandlungen zwischen der KWK und dem Bund scheiterten allerdings, da niemand die Verantwortung und die Kosten für den Projektabbruch übernehmen wollte. Der Autor ortet ins - besondere beim Bund ein Manko, für das Scheitern des Bauvorhabens belangt zu werden. Erst nach dem Unfall in Tschernobyl, der die öffentliche Akzeptanz der Atomenergie auf einen Tiefpunkt brachte, war der politische Wille, das Projekt endgültig zu liquidieren, vorhanden.

Die sorgfältig recherchierte und anschaulich verfasste Dissertation von Patrick Kupper schliesst eine wichtige Lücke in der Geschichte der schweizerischen Kernenergie. Mit seiner Fallstudie über das gescheiterte AKW-Projekt Kaiseraugst hat der Autor ein Buch geschrieben, das – im Unterschied zu den meisten bisherigen Untersuchungen – die Entwicklung der zivilen Nutzung der Atomenergie in der Schweiz auf verschiedenen Handlungsebenen und aus der Sicht von mehreren Akteuren erforscht. Dabei gelingt es ihm, Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung offen zu legen und das Phänomen «Kaiseraugst» als kollektiven Lernprozess darzustellen, in welchem die Grenzen zwischen Technik, Kultur und Gesellschaft verschwimmen. Dass sich dabei gewisse Wiederholungen ergeben, kann dem Autor kaum angelastet werden. Im Gegenteil: die Untersuchung lebt von der unterschiedlichen Darstellung und Interpretation gleicher Begebenheiten aus der Sicht verschiedener Akteure. Ermöglicht wurde die umfassende Darstellung durch den Zugriff auf Quellenbestände, die bisher unter Ver - schluss gehalten wurden. Namentlich ist hierbei der Nachlass der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG zu nennen, deren umfangreiches Aktenmaterial durch die Studie einer interessierten Leserschaft zugänglich gemacht wird. Zu bedauern ist einzig die Tatsache, dass sich der Autor auf die Darstellung des Falls «Kaiseraugst» be - schränkt. Verweise zur Entwicklung von zeitgleichen Atomkraftwerkprojekten, die im Gegensatz zu «Kaiseraugst» tatsächlich realisiert wurden, finden sich nur am Rande. Als Grundlagenwerk für die weitere Erschliessung der Geschichte der Schweizer Atomenergie bildet die Untersuchung von Patrick Kupper jedoch einen ausgezeichneten Ausgangspunkt.

Zitierweise:
Leyla Gül: Rezension zu: Patrick Kupper: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst, Zürich, Chronos Verlag, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.1, 2005, S. 116-119.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.1, 2005, S. 116-119.

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